Spricht man von deutschen Vorzeigeindustrien, so wird wohl in einem Atemzug der Automobilbau, Maschinenbau und eventuell die Chemieindustrie genannt, aber bis 1990 dominiert noch ein ganz anderer deutscher Industriezweig den Weltmarkt, es ist die deutsche Strumpfwirkindustrie. Sie gehört zu den ältesten Planeten im kompletten Industriekosmos, als Unterkategorie der Textilindustrie gerne etwas vernachlässigt, entwickelt sie sich über mehrere Jahrhunderte zu einem starken Wirtschaftsfaktor und zum Rückgrat vieler Städte und Regionen. Ausgehend von den ersten Pionieren der Branchen entstehen aufsteigende Strumpfwirkerfamilien, welche mit ihren Fabriken und Qualitätsprodukten einen enormen Einfluss in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung gewinnen. Auch wenn ihr Stern heute erloschen ist, wirken ihre Namen noch lange nach, so sind es die Wielands, Rösslers, Schletters, Bahners und Neukirchners, welche mit ihren Strümpfen zu Ruhm gelangten und einen kompletten Industriezweig führten.

Den Anfang nimmt die lange Geschichte der Strumpfwirkerei gegen Ende des 16. Jahrhunderts. In dieser Zeit findet der frühe Strumpf seinen ersten Weg in die Mode der Adelshäuser und integrierten Bürgergesellschaften, zeitgleich zu dieser neuen Erscheinung entwickelt der Engländer William Lee den ersten funktionsfähigen Strumpfwirkstuhl der Welt. Es beginnt der Siegeszug Strumpfes in ganz Europa.

 

Strumpffabrik R. Esche in Limbach, ca. 1860 (Quelle: TU-Chemnitz.de)
Strumpffabrik R. Esche in Limbach, ca. 1860 (Quelle: TU-Chemnitz.de)

Die Strumpfherstellung selbst zählt im Bereich der Textilindustrie in die Kategorie des Wirkwesens, ein garnverarbeitender Fertigungszweig. So wird beim Wirken durch ineinander greifende Schleifen die Wirkmaschen gebildet, welche in ihrer Gesamtheit ein gewirktes Gewebe vereinen. Zu Beginn erfolgt dieser Prozess noch als Flächenware, zu späteren Zeitpunkt als Schlauchware. Durch diese spezielle Gewebeschaffung ist der erzeugte Stoff besonders elastisch und passt sich so Körperformen exakt an, ideal als Grundprinzip für Strümpfe und Socken. Über England kommt die Wirkerei nach Frankreich, durch die Hugenotten-Vertreibung 1685 finden darauf viele Strumpfwirker ihren Weg in weite Teile von Sachsen und Thüringen. Besonders in dem sehr armen Erzgebirge entwickelt sich das neue Gewerbe rasch in den Gemeinden weiter und wird so bereits früh eine Grundlage für viele Haushalte. Der Bergbau von Erzen neigte sich hier dem Ende entgegen und die Familien sind auf der Suche nach einer neuen Erwerbsmöglichkeit, die Strumpfwirkerei biete sich als Ersatzindustrie förmlich an.

Als Grundlage dient, in dem von Zünften organisierten Gewerke, das Verleger-System. So fertigen in den vielen mittelsächsischen Gemeinden meist recht arme Wirkerfamilien an Handwirkstühlen in Heimarbeit die Wirkwaren. Diese wird von sogenannten "Verlegern" aufgekauft und für einen quadrierten Preis in den Handelsstädten, wie Chemnitz oder Leipzig, an Endkunden oder weitere Händler verkauft. Die produzierenden Familien können gerade von ihrer Arbeit leben, während die Verleger durch den enormen Gewinn die Nutznießer dieses Systems sind.

Um 1710 ist es Johann Esche, welcher in Limbach bei Chemnitz den ersten deutschen Strumpfwirkstuhl baut und damit die erste Grundlage für eine Industrialisierung in der mitteldeutschen Strumpfwirkerei setzt. Der mechanische Wirkstuhl beginnt sich in den Wirkerfamilien zu verbreitern und erlaubt der Strumpfherstellung eine weitaus größere Stückzahl, es ist ein Massenprodukt geboren.

Strumpfwirker-Familie Wieland aus Auerbach/E., um 1927 (Quelle: F.Drechsel - Sehmatal-Cranzahl)
Strumpfwirker-Familie Wieland aus Auerbach/E., um 1927 (Quelle: F.Drechsel - Sehmatal-Cranzahl)

Ausgehend von Esche's ersten Wirkstuhl entwickelt sich parallel der Textilmaschinenbau rasant mit. Er unterstützt durch eigene Entwicklungen in den kommenden 200 Jahren die Entwicklung der Wirkindustrie mit. Besonders die sächsischen Städte Chemnitz und Limbach-Oberfrohna entwickeln sich zu Hochburgen des Wirkmaschinenbaues.
Das Abnahmesystem der Verleger fällt in Folge der technischen Entwicklung rasant zusammen und die ersten Wirkerfamilien beginnen, nachdem sie durch Geldgeber das nötige Kapital mobilisieren konnten, sich in Fertigung und Vertrieb selbst zu organisieren. Die kommende Entwicklung läuft spannender Weise bei vielen dieser Familien parallel ab. So beginnt man anfangs noch im heimischen Wohnhaus eine kleine Anzahl neuer mechanischer Maschinen in einem Raum aufzustellen, mit steigender Nachfrage wachsen alle weiteren Ausbaustufen über sich hinaus. Es entstehen aus den einfachen Wohnhäuser kleine Fertigungsgebäude. Diese wachsen über Anbauten in der Breite, bis es durch den Einsatz von hohen Kapitalwerten zum Neubau eines Fabrikgebäudes kommt. Die Familien selbst geben dieses aufgebaute Erbe in Tradition weiter, hat der Vater mit den ersten Wirkstühlen alles gegründet, so führen seine Söhne die Unternehmen weiter und bringen es nicht selten zu einem Weltruhm.

Die Strümpfe und Socken aus Sachsen werden schnell zu echten Exportschlagern. Ausgezeichnete Qualität und ein immer aktuelle Modetrends sowie ein ständiger Innovationsdrang, es sind die Aspekte, welche die Unternehmen zu Weltmarktführer macht. Noch vor Beginn der Globalisierung gewinnen die Strumpfprodukte gerade in Übersee eine wachsenden Beliebtheit zu gewinnen. In den unzähligen Gemeinden im Erzgebirge wachsen die Strumpffabriken durch diese Entwicklung wie Pilze aus dem Boden und auch die Industriestadt Chemnitz wird durch die ratternden Wirkmaschinen entscheidend geprägt. In dieser Aufschwungphase sind es gerade die Städte Thalheim, Oberlungwitz, Gelenau und Auerbach, welche gerade erst durch diese Industrie zu einem enormen Wachstum gelangen und ihre heutige Ausdehnung erreichen. 

Strumpffabrik R. Götze Oberlungwitz (Quelle: E.Neubert Chemnitz)
Strumpffabrik R. Götze Oberlungwitz (Quelle: E.Neubert Chemnitz)

Mit dem Jahr 1920 rattern in ganz Mittelsachsen überall die Flachkulierwirkmaschinen.

Die unterschiedlichsten Hersteller, wie „ARWA“, „FTO“, „ROGO“, „ELBEO“, „ERGEE“ und viele weitere erhalten auf internationalen Weltausstellungen mehrerer Auszeichnungen für ihre Produkte und beweisen damit ihre Marktstellung in 4 Kontinenten. Es ist die Hochzeit dieser Ära, so kommen zirka 70 % des amerikanischen Marktes und schätzungsweise  80% des Weltmarktes an Strumpfwaren aus den sächsischen Strumpffabriken im Erzgebirge und dem Chemnitzer Vorland. Diese internationalen Erfolge werden in der Folge des Ersten Weltkrieges erst durch eingeführte amerikanische Schutzzölle zum Einsturz gebracht.

Besonderer Höhepunkt dieser Ära ist wohl die Auszeichnung der Firma „ELBEO“ (L.Bahner) aus Oberlungwitz mit dem „Grand Prix“ auf der EXPO 1937 in Paris für einen 11den-Feinstrumpf, eine Auszeichung, welche bis dato noch kein Unternehmen auf der Welt erlangen konnte. Während beider Weltkriege müssen viele Unternehmen ihre Produktion kürzen, beziehungsweise komplett einstellen, der Absatz an Strumpfwaren ist extrem eingebrochen und die Produktionsanlagen werden für kriegswichtigere Güter benötigt. Somit lagern viele deutsche Großunternehmen ihre Fertigung in die Strumpffabriken des Erzgebirge um, statt eleganten Damenstrümpfen werden nun Patronen, Flugzeugteile und Feinmechanik produziert. Die sehr versteckte Lage in den Tälern des Gebirges schützt viele Fabriken vor alliierten Luftangriffen, kriegsbedingte Schäden sind an den Fabriken meist überschaubar.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist an einem Neuanfang dennoch nicht so schnell zu denken. Durch die sowjetischen Besatzer werden große Teile der Maschinen ab 1945 demontiert und die wertvollen Musterarchive geplündert. Ein nicht kompensierbarer Verlust. Die einst so großen und glanzvollen Fabriken bluten ohne jegliche Kriegseinwirkung fast vollkommen aus. Hinzu kommt ab 1946 eine Welle der Unternehmensenteignungen. Veranlasst werden diese durch eine neue sozialistische Wirtschaftsführung unter den neuen politischen Führungskräften in der sowjetischen Besatzungszone. Man kann sagen, dass die Weltwirtschaftskrise, Kriegsschäden und Demontagen die Firmen schwer getroffen haben, aber die Enteignung der Fabriken sollte das Gesamtgerüst auf ewig erschüttern und damit bis heute noch nachwirken. Die Strumpfwirkerfamilien, deren Urgroßväter einst das Imperium begründeten, bekommen in dieser Phase alles aus den Händen gerissen, was sie sich aufgebaut hatten. Viele dieser Familien drehen für immer ihrer Heimat den Rücken und wandern nach Westdeutschland aus, um hier mit ihren Unternehmen einen Neuanfang zu wagen. Allerdings nicht ohne dabei wichtige Unterlagen und Musterbestände der Waren mit zu überführen.

Die enteigneten Fabriken werden verstaatlicht und zu volkseigenen Betrieben umgewandelt. Als drei übergeordnete „Mutterbetriebe“ entstehen die drei Strumpfwerke „3 Tannen“ in Thalheim, „ESDA“ in Auerbach und „FSO“ in Oberlungwitz. Ihnen werden alle weiteren Strumpffabriken in Sachsen untergeordnet. 1965 schließen sich diese drei Strumpfwerke in einer zweiten Zentralisierungsphase zum „VEB Vereinigte Feinstrumpfwerke ESDA“ mit Hauptsitz in Thalheim zusammen. Dieser erster Großbetrieb besitzt etwa 5700 Beschäftigte. 1953 beginnt in Sachsen die Fertigung von nahtlosen Damenstrümpfen aus synthetischer Seide auf Rechts-Links-Kleinrundstrickmaschinen, bis heute das Standardmedium im Strumpfdesign.

1970 geht die DDR-Planwirtschaft in die Kombinatsbildung über, in diesem strukturübergreifenden Wirtschafts-prozess inbegriffen ist auch der "VVB ESDA". Als neues Kombinat „ESDA Thalheim“ werden alle Strumpfwirkbetriebe der DDR sowie alle Veredelungsbetriebe des Fertigungszweiges zu einem Betriebskomplex vereint. Mit über 15.000 Beschäftigten entsteht der größte Strumpfhersteller der Welt.

Vom Thüringer Wald über Oberlungwitz bis in die tiefen Täler des Erzgebirges werden so unter diesen vier Buchstaben Strümpfe für die ganze Welt hergestellt und sowohl nach Ost und West vertrieben. Nicht selten kommt es vor, dass auf Grund des hohen Exportanteiles viele DDR-Konsumstellen in der Warenbestückung zu kurz kommen, Strümpfe werden schnell zur "Bückware" für die DDR-Bürger. Die misslungene Devisenpolitik des Wirtschaftskomitee zeigt sich dabei besonders in der Preisbildung der Strumpfwaren. Während in Westdeutschland die ESDA-Damenstrümpfe aus der DDR für 50 Pfennig, unter den Selbstkosten, über den Kassentisch gehen, muss die ostdeutsche Frau stolze 15 Ostmark für sie hinlegen, ein vollkommen unausgewogenes Verhältnis. Nicht selten finden viele Paar Strümpfe, über den Umweg als Westpäckchen, wieder ihren Weg in ihr Erzeugerland zurück.

Zum 1.1.1982 wird der „VEB Feinstrumpfwerke Oberlungwitz (FSO)“ wieder aus diesen Gesamtgebilde ausgegliedert und erhält eine gewisse Selbstständigkeit zurück. Die Fertigungsbreite wird nun unter den beiden Großbetrieben rationalisiert aufgeteilt. Bis zum Ende der DDR rattern die Rundwirkstühle in den Sälen volkseigenen Strumpffabriken. Die Damenstrümpfe aus Oberlungwitz, Kindersocken aus Gelenau und Herrensocken aus Großolbersdorf. 

Doch so durchwachsen und langatmig der Aufstieg der Strumpfwirkerei in Sachsen auch war, so schnell und hart wird ihr Untergang werden. Mit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 ändert sich das Gesamtgefüge der Absatzmärkte grundlegend und bringt damit das komplette Kartenhaus der DDR-Strumpfwirkindustrie zum Einstürzen. Das Kombinat 'ESDA' wird aufgelöst und die unzähligen einzelnen Strumpffabriken ihrem eigenen Schicksal überlassen. Der Wegfall von Märkten in Osteuropa sowie ein einsetzendes Umdenken der Konsumgesellschaft hin zu Billigware aus Asien raubt der Industrie ihre Lebensgrundlage. Die fehlerhafte Wirtschaftspolitik und eine schlecht organisierte Treuhand-Anstalt geben ihren Rest in diesem letzten Abwicklungsprozess hinzu. So kann man nach fast 150 Jahren industrieller Tradition dabei zusehen, wie in einer Strumpffabrik nach der anderen für immer die Lichter ausgeschalten werden. Die Wirkmaschinen verstummen und symbolisieren gleichzeitig das Ende einer Ära. Es trifft dabei allerdings nicht nur die Betriebe. So leiden besonderes auch die Gemeinden und Städte unter diesem Deindustrialisierungsprozess. Wo die Arbeit fehlt, tritt eine Abwanderungsbewegung ein, welche bis heute hier sich sichtbar auswirkt.

Es sind vereinzelt nur noch die Großbetriebe, wie die ROGO Oberlungwitz oder die privatisierte ESDA GmbH, welche durch Rückübertragungen und Firmenumwandlungen gerettet werden können, aber auch ihre Anzahl wird sich in den Folgejahren hin zum Jahr 2000 stark ausdünnen. Während die ehemaligen Großen der Branche heute ihre alten Standorte nur noch als Logistiklager nutzen und Strumpfwaren in günstigeren Fertigungsländern in Asien produzieren, sind es die wenigen Kleinunternehmen, welche in geringer Stückzahl eine Produktion von hochwertigen Strümpfen aufrecht erhalten. Sie sind die letzten Überlebenden einer fast ausgestorbenen Industrie.

Die große Zeit, in der sich die Damen der Welt mit sächsischer Wirkware kleideten, ist lange vorbei. So manch alter Strumpfbaron würde sich wohl heute im Grabe umdrehen, wenn er sehen würde, was aus seiner alten stolzen Fabrik heute geworden ist. Von der ehemaligen sächsischen Vorzeigeindustrie sind nur noch Relikte erhalten geblieben; Gebäude, welche von der einstigen Größe von eindrucksvoll erzählen.

 

von Basti Dämmler - 1.September 2016

 



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